Habe ich nun Feierabend?

"Ich sitze im unteren Stock. Endlich sitzen. Gefühlte zwei Minuten erst.
Vor dem Fernseher mit dem Ipad auf den Knie.
Feierabend. Vermeintlich. Wie so oft.
Ich höre etwas. Und schon ruft der grosse Bruder:
"Mama, sie brüeled. Es isch ihres Buchweh-Brüele."
Ich geh hoch, hör sie nun ganz deutlich. Geh in ihr Zimmer und sie schreit. Mit Krokodilstränen in den Augen steht sie wackelnd im Bett.
Mit der Zewidecke gespannt wie ein Zirkuszelt steht sie an den hohen Gitterstäben ihres Pflegebettes.
Und schreit.
So laut wie es nur 9jährige können.
Nicht wie ein Baby.
Sondern wie ein grosses Kind. Das nicht sprechen kann.
Und daher schreit.
Ganz, ganz laut.
Es geht durch Mark und Bein.
Sie muss grosse Schmerzen haben.
Mal wieder hat sie Koliken.

Wir kennen diese Art des Weinens. Haben sogar einen eigenen Namen dafür. Das "Bauchweh-Weinen". Die Situation ist für uns nicht mehr ganz so schlimm wie die ersten Male, als wir nicht wussten was sie hat. Heute hören wir es dem Tonfall an, dass sie Schmerzen hat. Der Grund? Weil sie ganz rasch ihr Essen runterschlingt und es kaum kaut. Daher hat sie viel Luft im Bauch und kann das verschlungene Essen nicht oder nur schlecht verdauen. Meistens geht das gut mit all den Mittelchen welche wir ihr geben zur Erleichterung. Aber eben nicht immer klappts ohne Bauchweh.
Ich geh mit ihr aufs WC obwohl sie kaum gehen kann.
Sie immer wieder einknickt.
Sie tut mir unendlich leid. Und ich weiss, da müssen wir nun durch.
Ein weiteres Mal. In etwa 45 Minuten wird es überstanden sein. Aber sie schaut mich mit verzweifelten Augen an und versteht es nicht. Wie auch... Nicht annährend kann sie nachvollziehen, was in ihrem Körper los ist. Denn sie ist geistig auf dem Stande eines etwa 1.5 jährigen Kindes, unser bald 9-jähriges Mädchen. Und sie schaut mich an und schreit, wie wenn es nie vorbeigehen wird.
Ich massiere ihren Bauch, werde hingezogen und weggeschubst.
An den Haaren gezogen und ganz fest gehalten, bis sich die Krämpfe endlich, endlich lösen. Um erneut wiederzukommen.
Und sie wieder schreien lassen. Und sie erschöpft seufzt und mich anschaut. Fragend...
Mit ihren wundervollen Augen, die Tränen kullern die Backen runter und ich versuche sie zu trösten. Zu beruhigen.
Der grosse Bruder kommt und tröstet auch. Und der Papi kommt und lässt sich ebenfalls umarmen und wegschubsen.
Hinziehen und wegstossen.
Bis die beiden wieder gehen dürfen.
Und sie in meine Arme sinkt.
Und ich merke, dass es vorbei ist.
Überstanden.
Und ich sie wieder ins Bett bringen kann. Und sie seufzt. Und noch etwas jammert.
Ich sie zudecke und sie mich wegstösst.
Das Zeichen, dass es jetzt gut ist. Dass ich gehen kann. Wir verstehen uns dann auch ohne Worte. Ich spüre, dass es vorbei ist und sie einschlafen wird. Erschöpft und ausgelaugt.
Und ich gehe nach unten, in der Hoffnung, dass sie wirklich den so wichtigen Schlaf findet. Für ein paar Stunden. Und ich mich hinsetze. Und die Ohren spitze. Hab ich nun Feierabend?

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